POLITISCHES POKER BIS ZUM SCHLUSS
Nach einem Positionswechsel der österreichischen Regierung in letzter Minute konnte der EU-Umweltrat am Montag, den 17. Juni 2024, in Luxemburg die heftig umstrittene Verordnung zur Wiederherstellung der Natur formell verabschieden. Sie wurde mit einer qualifizierten Mehrheit von 20 Ländern und 66% der vertretenen europäischen Bevölkerung angenommen (20 Mitgliedstaaten stimmten dafür, 6 dagegen und 1 Mitgliedstaat, Belgien, enthielt sich). Dieses EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ist ein zentraler Bestandteil des europäischen Green Deals, dessen übergeordnete Ziele die Umwandlung Europas in eine nachhaltige Gesellschaft und die Dekarbonisierung der EU bis 2050 sind. Die Verordnung ist Teil der EU-Biodiversitätsstrategie und stellt die erste bedeutende Ergänzung der europäischen Umweltgesetzgebung seit mehr als 20 Jahren dar. Ziel ist es, die bestehenden EU-Naturschutzvorschriften anzupassen und zusätzliche verbindliche Maßnahmen zur Wiederherstellung bereits zerstörter Lebensräume aufzunehmen, insbesondere solcher, die das größte Potenzial zur CO2-Bindung und zur Verhinderung oder Verringerung der Auswirkungen von Naturkatastrophen haben. Da es sich um eine Verordnung handelt, gilt sie unmittelbar und automatisch ab dem Tag Inkrafttretens, dem 18. August 2024, in allen EU-Mitgliedstaaten.
Zielsetzung und Umsetzung der Verordnung zur Wiederherstellung der Natur
Die Verordnung setzt den Mitgliedstaaten verbindliche Ziele für die Wiederherstellung von 20% ihrer geschädigten Land- und Meeresökosysteme bis zum Jahr 2030 und aller ihrer bedürftigen Ökosysteme bis 2050. Um diese Ziele zu erreichen, müssen die Mitgliedstaaten mindestens 30% der Lebensräume, die unter die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur fallen, bis 2030; 60% bis 2040 und 90% bis 2050 von einem schlechten in einen guten Zustand bringen.
Die Gebiete, die Gegenstand von Wiederherstellungsmaßnahmen sind, müssen eine kontinuierliche Verbesserung des Zustands des Lebensraums aufweisen, bis ein guter Zustand erreicht ist. Die Mitgliedstaaten müssen darüber hinaus sicherstellen, dass sich der Zustand der Ökosysteme weder vor noch nach der Wiederherstellung verschlechtert.
Ein „guter Zustand“ eines Lebensraumtyps beinhaltet laut Verordnung einen Zustand, in dem seine Hauptmerkmale, insbesondere seine Struktur und seine Funktionen sowie seine typischen Arten oder seine typische Artenzusammensetzung, ein solch hohes Maß an ökologischer Unversehrtheit, Stabilität und Widerstandsfähigkeit widerspiegeln, dass eine langfristige Erhaltung nach den Definitionen der Habitat-Richtlinie und der Meeresstrategie- Rahmenrichtlinie gewährleistet ist.
Die EU-Mitgliedstaaten müssen dazu nationale Wiederherstellungspläne aufstellen und der Europäischen Kommission innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung zur Wiederherstellung der Natur vorlegen. Die nationalen Pläne müssen entsprechende Maßnahmen für den Zeitraum bis zum Jahr 2050 und Zwischenziele für 2030 und 2040 enthalten. Vorrang haben dabei Gebiete, die sich derzeit in keinem guten Zustand befinden und in Natura-2000-Gebieten liegen.
Um eine wirksame Umsetzung der Verordnung zu gewährleisten, wird die Europäische Kommission im Wege von Durchführungsrechtsakten ein einheitliches Format für die nationalen Wiederherstellungspläne festlegen und Leitlinien für Wiederherstellungsmaßnahmen und -managementverfahren entwickeln. Die nationalen Pläne werden die Ergebnisse der Bewertungen der Ökosysteme, den Wiederherstellungsbedarf und die Maßnahmen auf der Grundlage der Kartierung und Bestandsaufnahme sowie den Zeitplan und die Kosten für die Durchführung der Wiederherstellungsmaßnahmen enthalten.
Ab 2030 müssen die Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission mindestens alle drei Jahre über die durchgeführten Sanierungsmaßnahmen und deren Ergebnisse Bericht erstatten.
Eventuelle Auswirkungen auf der Wasserkraftsektor
Die EU-Mitgliedstaaten müssen für Synergien mit der neuen Erneuerbare-Energien-Richtlinie sorgen und dabei ihre nationalen Sanierungspläne mit der Kartierung der Gebiete, die für den nationalen Beitrag zum Unionsziel von mindestens 42,5% Erneuerbarer Energien bis 2030 erforderlich sind, koordinieren.
Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einer Beeinträchtigung des Ökosystems vorzubeugen, gilt nicht für Beeinträchtigungen, die durch Projekte zur Nutzung Erneuerbarer Energien, deren Anschluss an das Netz und das damit verbundene Netz selbst sowie durch Speicheranlagen außerhalb von Natura 2000-Gebieten verursacht werden. Dies gilt auch für die Wasserkraft.
Bei Erneuerbaren Energien wird davon ausgegangen, dass sie im überwiegenden öffentlichen Interesse liegen, und es muss nicht nachgewiesen werden, dass keine weniger schädlichen Alternativlösungen zur Verfügung stehen, wenn eine strategische Umweltprüfung oder eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt worden ist. Die Mitgliedstaaten können jedoch unter hinreichend begründeten und spezifischen Umständen diese Vermutung auf bestimmte Arten von Technologien im Einklang mit den in ihren nationalen Energie- und Klimaplänen festgelegten Zielen beschränken. Daher sollten Interessenvertreter*innen der Wasserkraft die geplanten Umsetzungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten genau verfolgen, um die Erhaltung und Entwicklung der Wasserkraft zu gewährleisten.
Die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur setzt das Ziel, bis 2030 mindestens 25.000 km Flüsse durch die Beseitigung künstlicher Hindernisse zu sogenannten frei fließenden Flüssen zu machen. Ein „frei fließender Fluss“ wird in der Verordnung definiert als „ein Fluss oder ein Flussabschnitt, dessen longitudinale, laterale und vertikale Verbindung nicht durch künstliche Strukturen, die ein Hindernis bilden, behindert wird und dessen natürliche Funktionen weitgehend unbeeinträchtigt sind“.
Die Mitgliedstaaten müssen eine Bestandsaufnahme der künstlichen Hindernisse für die Durchgängigkeit von Oberflächengewässern durchführen. Dabei ermitteln sie die künstlichen Hindernisse, die beseitigt werden müssen, um die Sanierungsziele zu erreichen. Hinzu kommt die Erstellung eines Zeitplans für die Beseitigung dieser Hindernisse. Wichtig ist hierbei für die Wasserkraft, dass die Mitgliedstaaten in erster Linie veraltete, nicht mehr verwendete künstliche Hindernisse identifizieren. Dabei sollte anerkannt werden, dass die Wasserkraft im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt, was bei der Festlegung der Prioritäten für die zu beseitigenden künstlichen Hindernisse ebenfalls berücksichtigt werden sollte.
Kommende EU-Gesetzesinitiativen
Parallel zur Umsetzung der Verordnung zur Wiederherstellung der Natur arbeiten die Europäische Kommission, die EU-Mitgliedstaaten und die einschlägigen Interessengruppen an einem Leitfaden zum Konzept der frei fließenden Flüsse. An dieser Stelle ist zu betonen, dass im derzeitigen Stadium der Verhandlungen weiterhin ein breiter Konsens darüber besteht, keine bestehenden Wasserkraftwerke abzureißen. Nur künstliche Hindernisse, die für die Energieerzeugung, die Schifffahrt, die Wasserversorgung oder den Hochwasserschutz nicht mehr benötigt werden, sollten beseitigt werden.
In diesem Zusammenhang hat die Europäische Kommission gerade eine Methodik für die rechtliche Definition eines frei fließenden Flusses vorgestellt, die vier Dimensionen der Konnektivität (längs, quer, vertikal, zeitlich) umfasst. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe (darunter u.a. KWÖ und EREF) werden in den nächsten Monaten Fallstudien und Vorschläge zur Aktualisierung der Methodik sammeln, bevor sie Anfang 2025 erste Ergebnisse vorlegen. Der Leitfaden soll im Frühjahr nächsten Jahres veröffentlicht werden.
Die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur und insbesondere die Definition des Begriffs „frei fließendes Gewässer“ werden in die geplante Überarbeitung der Wasserrahmenrichtlinie aufgenommen. Nach mehr als 20 Jahren ist dies eine Chance für die Wasserkraftbranche, restriktive Gesetzespassagen an die Tatsache anzupassen, dass die Wasserkraft und der gute ökologische Zustand eines Flusses Hand in Hand gehen können. Kleinwasserkraftwerke schaffen Lebensräume für seltene und wertvolle Wasserpflanzen und -vögel sowie für Fische, reichern die Gewässer mit Sauerstoff an und reinigen die Flüsse von Treibgut aller Art.
EREF leitet im Rahmen des EU-Projekts ETIP Hydropower eine Stakeholder-Gruppe zu Fragen der biologischen Vielfalt und Wasserkraft. In den nächsten Monaten wird sie entsprechende Übersichten zu besten Vorgehensweisen und Empfehlungen erstellen, die den Entscheidungsträger*innen auf nationaler und europäischer Ebene vorgelegt werden.
Dank der Unterstützung seiner Mitglieder wird EREF die neu gewählten Entscheidungsträger*innen im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission über die Vorteile und Möglichkeiten der Wasserkraft informieren und sich weiterhin für ihren Ausbau als wichtigen und notwendigen Beitrag zur Erreichung der europäischen Klima-, Umwelt- und Energieziele einsetzen.
Autor*innen: Yola Traum & Dirk Hendrick (beide EREF)