Anhand 13 sogenannter „building blocks“ hat ecno – das European Climate Neutrality Observatory – den aktuellen Stand der Europäischen Union auf dem Weg zur Klimaneutralität bewertet. Zwar sind einige positive Veränderungen zu verzeichnen, im Allgemeinen geht es aber zu langsam voran.
Der momentane Stand
Das Ziel der Europäischen Union ist, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden – in Summe sollen ab diesem Zeitpunkt also keine Netto-Treibhausgasemissionen mehr entstehen. Das ist im europäischen Klimagesetz aus dem Jahr 2021 verankert. Dort ist auch das Zwischenziel, bis 2030 die Treibhausgasemission um 55% gegenüber 1990 zu reduzieren, festgelegt.
Elektrizität
Die Dekarbonisierung im Elektrizitätssektor geht seit der letzten Auflage des Berichts 2022 zu langsam voran. Der Anstieg der Kohleverstromung im Anschluss an die Energiepreiskrise hat die Emissionen vorübergehend erhöht. Günstige Witterungsbedingungen, die fortgesetzte Nutzung der Erneuerbaren und eine geringere Nachfrage haben jedoch dazu geführt, dass die Emissionen anschließend wieder sanken. In vielen wichtigen Bereichen zeigen die Trends aber dennoch keine ausreichenden Fortschritte. Dazu gehören Investitionen in die Netzinfrastruktur, Digitalisierungsbemühungen wie intelligente Stromzähler, und die Bereitstellung nicht-fossiler Flexibilitäten, insbesondere Speicherung und Nachfragesteuerung. Um die Emissionen im Stromsektor zu senken, definiert der Bericht drei wesentliche Stellschrauben: die Reformierung des Elektrizitätsmarkts, der Netzausbau und die Erhöhung der Flexibilität. In den letzten fünf Jahren hat sich der Anteil der Erneuerbaren im Durchschnitt um 2,2 Prozentpunkte pro Jahr erhöht. Das ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, sollte aber schneller gehen. Gleichzeitig geschieht die Abkehr von fossilen Energieträgern nicht rasch genug – um die Ziele hierbei zu erreichen, müsste die Geschwindigkeit des fossilen Phase-Outs laut dem Bericht etwa verdoppelt werden. Um den Anforderungen des Ausbaus der Erneuerbaren gerecht zu werden, muss auch in die Netze investiert werden. Studien zufolge müssten die momentanen Investitionen zwischen 15% und 50% erhöht werden. Auch der Anteil der intelligenten Stromzähler, die eine Beteiligung der Verbraucher*innen ermöglichen und eine wichtige Rolle bei der Digitalisierung des Stromnetzes spielen, nimmt stetig zu, allerdings ebenfalls in einem zu langsamen Tempo. Hinsichtlich der Flexibilität gibt es ebenfalls Aufholbedarf. Vorläufige Ziele für die Energiespeicherung deuten auf einen Bedarf von 200 GW bis 2030 hin – die momentan installierten Kapazitäten liegen bei etwa 60 GW. Ein Blick auf die Entwicklung der Batteriespeicherkapazität zeigt, dass die Fortschritte viel zu langsam sind. Dies ist besonders kritisch, da sich der Flexibilitätsbedarf bis 2030 voraussichtlich verdoppeln wird. Neue Flexibilitätsquellen wie Laststeuerung, also die Steuerung der Nachfrage nach netzgebundenen Dienstleistungen bei Abnehmern, abschaltbare Erneuerbare Energien und Energiespeicher befinden sich auf einem niedrigen Niveau und nehmen zu langsam zu.
Mobilität
Ein weiterer wesentlicher Sektor, der bei der Dekarbonisierung Europas eine wichtige Rolle spielt, ist die Mobilität. Während der Corona-Pandemie haben weniger Personen die öffentlichen Verkehrsmittel genutzt, was sich negativ auf die energetische Gesamtbilanz auswirkte. Mittlerweile hat sich die Lage dahingehend aber wieder gebessert, Luft nach oben gibt es trotzdem, insbesondere auch beim Güterverkehr. Einer der wesentlichen Aspekte, die für die mobilitätsbezogenen Emissionen verantwortlich sind, ist der motorisierte Individualverkehr. Die neuesten Daten zeigen, dass 2022 der Autobesitz mit 0,56 Autos pro Einwohner*in auf einem Rekordhoch war. Aktuell gibt es keine Ziele der EU, das Transportvolumen oder öffentliche Verkehrsmittel zu beeinflussen, da davon ausgegangen wird, dass dies durch Stadtplanung und regionalen Ausbau organisiert wird. Was jedoch von der EU ausgeht, ist das Trans-European Transport Network – Pläne für nachhaltige urbane Mobilität für über 400 Städte in ganz Europa. Ebenfalls wird von der EU die Notwendigkeit für höhere Förderungen für Radinfrastruktur anerkannt. Auch der Güterverkehr bewegt sich in die falsche Richtung. Während der Transport mit LWK´s zunahm, verringerte sich der Güterverkehr über die Schiene und über das Wasser. Hier möchte die Europäische Union gegensteuern, indem das Schienenfernverkehrsnetz bis 2050 umfassend und grenzüberschreitend ausgebaut werden soll – Pläne sehen vor, 430 Städte und alle großen EU-Flughäfen durch Züge mit einer Geschwindigkeit von mindestens 160 km/h zu verbinden. Dies soll sowohl dem Güter- als auch dem Personenverkehr dienen.
Industrie
Der Bericht attestiert der europäischen Industrie insgesamt ein viel zu langsames Vorankommen hinsichtlich der Dekarbonisierung. Dennoch hat sich der Fortschritt in vielen Bereichen beschleunigt, insbesondere bei der Verringerung der Treibhausgasemissionen und der Energieeffizienz von Industrieprozessen. Wichtig ist, dass die bewerteten Daten im Jahr 2022 enden, dem Jahr, in dem der Sektor trotz der einsetzenden Energiekrise seine Aktivität im Vergleich zu 2021 noch steigern konnte. Diese positiven Veränderungen waren zum Teil Folge der Volatilität der globalen Energiemärkte nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Die wichtigsten Stellschrauben für die Verringerung der Treibhausgasemissionen sind Implementationen bereits vorhandener Richtlinien, insbesondere jene, die Teil des „Fit for 55“ Pakets sind. Dafür braucht es aber finanziellen Support vor allem für die Elektrifizierung, Infrastruktur und Energieeffizienz. Weitere wesentliche Aspekte, die zu einer Dekarbonisierung des Industriesektors beitragen können, sind die Produktion von erneuerbarem Wasserstoff, die Implementation von Carbon Capture and Storage Technologien sowie der verstärkte Fokus auf eine Kreislaufwirtschaft.
Lifestyle
Auch persönliche Konsumentscheidungen haben einen Einfluss auf die allgemeine Klimabilanz – jeder und jede Einzelne hat die Möglichkeit und Verantwortung, Veränderungen herbeizuführen. Gleichzeitig gibt es aber auch hier Möglichkeiten, dies durch Policy-Rahmen zu steuern, vor allem, weil die Auswirkungen persönlicher Entscheidungen eng mit Maßnahmen der Industrie, beispielsweise hinsichtlich der Kreislaufwirtschaft, zusammenhängen. Das sogenannte LIFE-Szenario für das Klimaziel 2040 zeigt, wie Veränderungen im Lebensstil den Energie-, Land- und Ressourcenverbrauch reduzieren könnten. Wesentlich sind dabei vor allem der Materialverbrauch (vor allem von nicht metallischen – Materialien) – das zeigt auch der Earth Overshoot Day, also jener Tag, an dem die Menschheit alle nachwachsenden Ressourcen, welche die Erde innerhalb eines Jahres regeneriert, aufgebraucht hat – dieser war 2024 am 1. August. Insgesamt hat sich der ökologische Fußabdruck eines europäischen Haushalts zwar verringert, allerdings um einen zu geringen Betrag, als dass die Klimaneutralität in diesem Bereich bis 2050 erreicht werden kann. Maßnahmen, mit denen diesem Umstand entgegengewirkt werden kann, sind vor allem ein Ausbau von Radwegen und öffentlichen und somit nachhaltigeren Transportmitteln das Anbieten nachhaltigerer Ernährungsformen unter anderem in Kantinen, das Verschärfen der Anforderungen von Reparierbarkeit und Haltbarkeit verschiedener Produkte und vieles mehr. Studien gehen zudem davon aus, dass die CO2-Bepreisung bis 2030 auf bis zu 190 Euro pro Tonne ansteigen sollte, um die Klimaziele zu erreichen. Auf der tatsächlich persönlichen Ebene sind die wesentlichen Indikatoren auf einem guten Weg, beispielsweise das klimabewusste Verhalten jedes Einzelnen: Aus der alle zwei Jahre durchgeführten Eurobarometer-Studie geht hervor, dass immer mehr EUBürger* innen in den letzten sechs Monaten persönlich Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels ergriffen haben. Dies korreliert mit dem gestiegenen Bewusstsein für die Ernsthaftigkeit des Klimawandels.
Fazit
Neben den angesprochenen Themenbereichen listet der Bericht noch eine Reihe weiterer Handlungsfelder wie Gebäudeeffizienz, die Landwirtschaft oder auch das Finanzwesen auf. In jedem der Sektoren kommt man zum etwa gleichen Ergebnis: Oft sind Pläne vorhanden und es gibt in speziellen Bereichen gute Fortschritte, insgesamt geht die Dekarbonisierung aber zu langsam voran. Was hilft, ist das persönliche Einstehen für Veränderungen und das Einfordern von Lösungen von Politik sowie Wirtschaft, beispielsweise durch Wahlen und Petitionen. Insgesamt stimmt zwar die Richtung in vielen Bereichen, aber es scheint, als bewegen wir uns oftmals nur im Schneckentempo auf das Ziel zu.
Die ganze Studie ist hier zu finden.